Astrid Schneider geb. Pieldner, Abschlussjahrgang 1980
Als pummelige, unsichere, komplexgeplagte 11jährige kam ich in die Waldschule. Der gute Rat, dass dies die richtige Schule für mich sein könnte, kam von meinem Grundschullehrer Herrn Maier, dessen Frau ebenfalls an der Waldschule unterrichtete.
Waldschule war - nach einer relativ kurzen Eingewöhnungsphase - fast Familie für mich, auch wenn es seltsam klingen mag, ich habe die Zeit genossen, die Schulzeit dort nicht über mich ergehen lassen, sondern gelebt.
Familie bedeutete Frau Döhring - als Schulsekretärin - aber eben nicht nur das, sondern Hilfe in Not, wenn vom Radiergummi bis zur Damenbinde etwas fehlte; sie umsorgte Schüler, denen schlecht war oder die krank waren und nicht gleich abgeholt werden konnten und "kümmerte sich einfach..."
Die Klassen waren klein und überschaubar, die Lehrer hatten Zeit für uns, Kunst, Musik und Sport wurden immer schon großgeschrieben. Ich erinnere mich gerne an Chor und Instrumental- AG mit Frau Bang, den dazugehörigen Freizeiten, um Werke wie das „Magnifikat“ noch besser einzustudieren.
Die „echten" Waldschullehrer, die den „Geist" der Waldschule mehr oder weniger erfolgreich an uns weitergaben, schafften es, unsere Stärken ins rechte Licht zu rücken und uns an unseren Schwächen arbeiten zu lassen. Nie hätte ich z.B. gedacht, dass ich eines Tages eine Eins in Sport im Halbjahreszeugnis stehen haben sollte - ich, der Unsportlichkeit und Unbeweglichkeit bescheinigt worden waren.
Verantwortung zu übernehmen lernten einige von uns auch im Zusammenhang mit unserem schuleigenen ,,Zoo“ – nein, ich meine nicht das Lehrerzimmer - sondern die Riesenschlangen, Mäuse, Ratten, Skorpione, Geckos, Chamäleons und - unsere drei Totenkopfäffchen. Zwei meiner Klassenkameradinnen und ich hatten nämlich ab der 7. Klasse das Glück, diese von Fernand Schmit aufgebaute und geführte Tiersammlung zu betreuen. Auch dabei lernten wir viel, z. B. dass Vogelspinnen monatelang ohne Nahrung auskommen können, wenn sie ausgebüxt sind..., dass freche Äffchen unbeliebte Geschichtslehrerinnen in die Flucht schlagen können, dass Schlangen nicht glitschig sind und dass man eben auch in den Ferien oder am Wochenende von Zeit zu Zeit in die Schule kommen musste, um eben diese Tiere zu versorgen. Hierzu kann ich noch anmerken, dass ich tatsächlich jedes Jahr in den Sommerferien schon nach 4 Wochen wieder bei Herrn Putzer auftauchte, weil mir die Ferien zu lang waren und ihm half, Klassenschilder zu beschriften, Klassenzimmer einzuräumen etc. Bei dieser Gelegenheit erfuhr ich dann auch immer gleich, in welchem Klassenzimmer ich mit welchem Klassenlehrer(in) das neue Schuljahr beginnen würde.
In meiner Waldschulzeit gab es noch keine Montessori-Freiarbeit, keinen Realschul- oder Gymnasialzweig, die Waldschule war ein Progymnasium mit dem Lehrstoff des Gymnasiums, aber ohne Oberstufe. Wir hatten die Wahl zwischen Tagesinternat, d.h. Mittagessen und Hausaufgabenbetreuung, oder ,,normalem“ Unterichtsschluss. Ich blieb im Tagesinternat, obwohl ich nur 5 Minuten von der Schule entfernt wohnte, und das war gut so. Um 16.00 ging es ab nach Hause und die Aufgaben waren erledigt. Meine Tagheimbetreuerin war damals Irmgard Geieregger, gerade frisch aus Leoben (Steiermark) ins Schwabenland importiert. Ihr charmanter Akzent sowie einige typisch österreichische Ausdrücke brachten uns oft Spaß. Mein Mitteilungsheft aus der Aufgabenbetreuung habe ich noch heute und ich kann mich immer wieder über die dort eingetragenen Bemerkungen amüsieren, wie z.B. „Astrid war heute lästig und außerdem hat sie viel gelacht.“ Offensichtlich war ich nicht zu lästig... Zwei Jahre später vertraute sie mir ihre damals knapp einjährigen Töchter an, die ich hütete, während sie in Konferenzen saß. Dieser Babysitterservice nahm größere Formen an und als es sich herumgesprochen hatte, bekam ich während der Gesamtlehrerkonferenzen all die Kinder zur Betreuung, die nicht zu Hause gelassen werden konnten - das war oft ein ganzer Kindergarten...
Einige unserer damaligen Lehrer waren Künstler - echte Künstler. Herr Sieber z.B. war entsetzt, dass wir Schüler seine Kunst nicht verstanden, kein Verständnis aufbrachten für seine Malerei, andere Prioritäten hatten, zu oberflächlich waren, uns nicht genügend interessierten für das, was ihm wichtig war. Oder Herr Müller-Kant, unser Musiklehrer, der im Unterricht Schallplatten von Beethoven, Bach o.a. auflegte, um uns ,,jungen Musikbanausen“ "echte Musikkunst“ zu präsentieren und dabei so hingebungsvoll mit geschlossenen Augen dirigierend in seine Musikwelt eintauchte, dass er gar nicht merkte, dass die Klasse sich nach und nach leerte und wir durch das Fenster verschwanden und er am Schluss der Schulstunde in der leeren Aula saß...
Zu meinem Leidwesen war die Waldschulzeit damals auf den Abschluss mit der 10. Klasse beschränkt und ich musste „meine“ Waldschule 1980 verlassen. Dieser Abschied verlief sehr tränenreich und das „Eintauchen“ in den Schulalltag eines Schulkomplexes wie dem KCG in Möhringen nicht ohne Probleme. Die Klassen waren riesig, die Schule auch, und ich fühlte mich nicht wohl. Nun ja, der Mensch ist Gottseidank anpassungsfähig und ich habe die letzten 3 Jahre meiner Schulzeit mit Anstand hinter mich gebracht - aber eben die Schulzeit nur überlebt und nicht gelebt. Nie werde ich jedoch vergessen, was Herr Kiemle mir sagte, als er mich verabschiedete: ,,Astrid, du bist das, was ich unter einer echten Waldschülerin verstehe.“
Die Waldschulzeit war ein ,,Miteinander“ - klar gab es gute und weniger gute Lehrer, Fächer, die Spaß machten und solche, die man eben ,,aussaß“, aber ich habe damals verstanden, dass ich für mich und nicht für die Schule lernte, dass die Kommunikation horizontal und vertikal, damit meine ich in den Klassenstufen und zwischen den Klassenstufen sowie mit den Lehrern, großgeschrieben wurde. Wo z.B. werden ältere Schüler/innen mit der Aufgabe betraut, auf jüngere Klassen zu achten, deren Lehrer wegen Schneechaos zu spät kommen. Oder auch die klassenübergreifenden Freizeiten wie die in der Landessportschule Tailfingen, an der gute Sportler teilnahmen, oder die Chor- und Instrumentalfreizeiten, zu denen alle Chormitglieder von der 5. bis zur 10. Klasse mitfuhren. So lernten wir uns kennen und Anonymität, wie in den ,,großen“ Schulen, kam nicht auf.
Auch nach meiner Waldschulzeit, bis zum Abitur, war ich noch regelmäßig ,,Zaungast“ in ,,meiner“ alten Schule - dies war und ist vor allem der schon damals entstandenen Freundschaft zu Linde Cornelius zuzuschreiben. Wann immer es mir möglich war, nahm ich aktiv oder passiv an ihrem Sportunterricht sowie an Volleyball- oder Tanz-AGs teil. Hierbei lernte ich viel nicht nur über Sport, Geräte, Tanz und Bewegung, sondern auch über Pädagogik, zwischenmenschliche Beziehungen, Hilfestellung in sportlichen wie in anderen Lebenslagen. Die damals begonnene Freundschaft hält bis heute - seit bald 30 Jahren - und ist mir äußerst wertvoll!
Nach dem Abitur verschlug es mich nach Brüssel - 16 Jahre lang. Die Besuche zu Hause in Degerloch und somit in der Waldschule wurden seltener. Studium, Ausbildung zur Fremdsprachenkorrespondentin und meine Arbeit in verschiedenen Landesvertretungen in der europäischen Hauptstadt ließen mir nicht mehr soviel Zeit - dennoch - immer, wenn ich zu Besuch in mein Elternhaus kam, führte mich mein erster Weg in die Waldschule - oft sogar noch, bevor meine Eltern mich zu Gesicht bekamen.
Mittlerweile sind nur noch wenige von meinen ,,alten“ Lehrern da, wenn ich ins Lehrerzimmer sehe - viele ,,neue“ Lehrer sind bedeutend jünger als ich, die Waldschule ist Realschule und Gymnasium geworden, die Schülerzahl ist gestiegen, die Probleme somit auch und es ist heute bestimmt nicht einfacher geworden Lehrer zu sein... . Der ,,Geist“ der Waldschule hat sich verändert, die Prioritäten haben sich geändert - aber das Neue ist bestimmt nicht das Schlechteste.
Ich besuche die Waldschule immer noch, wenn mich mein Weg nach Degerloch führt, denn ich lebe heute im nördlichsten Bundesland Deutschlands, zwischen Kiel und Eckernförde an der Ostsee. Aber ich habe die Entwicklung der Waldschule über die Jahre verfolgt, freue mich immer, mir vertraute Gesichter im Lehrerzimmer wiederzusehen und bin eigentlich nur traurig darüber, dass meine beiden Töchter nicht auch in „meine“ Waldschule gehen können - aber eines werde ich bestimmt tun, wenn sie alt genug sind: ihnen von meiner Schulzeit dort erzählen, denn ich bin sicher, dass ich durch diese Zeit geprägt worden bin.